so das Motto der Märzausgabe des in Dortmund und Bochum produzierten Stadtmagazins bodo. Darin zum Dokumentarfilm DAS GEGENTEIL VON GRAU und der Bewegung in den Nischen der Städte ein ausführliches Interview mit dem Filmemacher Matthias Coers. | ENGLISH VERSION

Bewegung in den Nischen der Städte

Gemeinschaftsgärten und MieterInneninitiativen, Repair-Cafés und Besetzungen von Leerstand, praktische Utopien und erkämpfte Freiräume: Das Ruhrgebiet ist nicht gerade das Zentrum des urbanen Aktivismus, aber verstreut in der ganzen Region machen Gruppen und Initiativen sich ihre Stadt selbst. Der Dokumentarfilm „Das Gegenteil von Grau“ von Matthias Coers und „Recht auf Stadt Ruhr“ kommt Ende März in die Kinos und stellt 20 von ihnen vor. Ein Interview. | PDF

Matthias, Du bist Soziologe, Filmemacher und stadtpolitischer Aktivist in Berlin. Dein Schwerpunkt sind die Kämpfe von MieterInnen gegen Vertreibung, Verdrängung oder Zwangsräumung. Warum?

Schon als ich Anfang der 1990er in Osnabrück meine erste Mietwohnung suchte, war der Wohnungsmarkt schwierig. Es gab „Wohnungsnot-Aktionstage“ und Demonstrationen, und daran habe ich mich beteiligt, weil ich es schon immer als wichtig empfand, dass man ein gutes Zuhause hat, das bezahlbar ist. Außerdem hatte ich immer eine starke Verbindung nach Berlin und habe natürlich auch die Hausbesetzerzeit der 90er Jahre erlebt, die Projektezeit. Vor acht Jahren bin ich nach Berlin gezogen, in ein Haus, in dem schlagartig die energetische Modernisierung vor der Tür stand und die Mieter Mieterhöhungen von 40 bis 100 Prozent ausgesetzt waren. Also habe ich mich neu mit dem Thema auseinandergesetzt, um richtig zu verstehen: Was bedeutet es eigentlich, dass es ein Gesetz gibt, das solche Mieterhöhungen möglich macht? Wir haben uns als MieterInnen organisiert und ich habe gleichzeitig als Fotograf gearbeitet und Kurzfilme gemacht für Stadtteilgruppen und Nachbarschaftsinitiativen.

Mit „Mietrebellen“ gibt es auch einen abendfüllenden Dokumentarfilm von Dir, der inzwischen in ganz Europa gezeigt wurde.

Ja, wir haben ihn direkt in mehrere Sprachen übersetzt und sind mit dem Film gereist, sodass er bis heute mehr als 300 Kinoaufführungen in ungefähr 100 Städten in Europa hatte. Wir haben MieterInnen eingeladen, um sie zu Wort kommen zu lassen und das Thema Wohnen als soziales Feld und als wichtige gesellschaftliche Frage ins Bewusstsein zu rufen. Der Protest hat sich dahingehend entwickelt, dass alle über die Stadtgesellschaft nachdenken und darüber, wie bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden kann. Die Fragen haben sich gesellschaftlich bzw. stadtgesellschaftlich wirklich erweitert.

Dabei unterscheiden sich die Städte und Regionen aber doch immens.

Schon, Berlin etwa ist ein Sonderfall. Hier gab es einen für eine Metropole ganz entspannten Wohnungsmarkt, weil nach dem Hauptstadtbeschluss sehr viele Wohnungen gebaut wurden – aber die Leute wegblieben. Nach dem Jahr 2000 begann der Zuzug, aber es wurden in der neoliberalen Welle auch gleichzeitig alle öffentlichen Güter verkauft und letzten Endes auch der ganze Großteil des Wohnungsbestandes. Jetzt läuft die Stadt voll und gerät schnell in eine Art Krise: Die Menschen kommen, das ist positiv, aber gleichzeitig gibt es keinen relevanten Neubau und die Lage spitzt sich immer mehr zu. In Berlin, und das ist eben die Besonderheit, werden die Menschen aktiv. Weil es erstens eine Vorgeschichte gibt – die politische Sensibilität der 1970er und 80er Jahre, die Hausbesetzerbewegung – und zweitens, weil die Mieterhöhungen so sprunghaft passierten. Die Leute waren es gewohnt, günstige Wohnkosten zu haben, oft liegt die Durchschnittsmiete immer noch zwischen fünf und sechs Euro. Bei Neuvermietungen gibt es in den einigermaßen attraktiven Stadtvierteln nichts mehr unter zehn Euro kalt. Wer umziehen muss oder neu hinzukommt, erfährt das als Schock. Und so hat sich hier schnell massiver Protest entwickelt, es gibt eine Fülle von Initiativen, Zusammenschlüssen, MieterInnenkämpfen.

Bei den vielen Veranstaltungen, die wir mit „Mietrebellen“ gemacht haben, ist mir dann aufgefallen: Dort, wo wir eingeladen wurden, gibt es eigentlich dasselbe Problem, aber es wird nicht artikuliert, es fehlt die Hoffnung, die Sensibilität in der Breite, die Wohnungsfrage zu thematisieren. Und der Film ist vielleicht ein kleiner Beitrag für Gruppen gewesen, die ihn als Anstoß und Arbeitsmittel bis heute nutzen.

Das Ruhrgebiet gilt mit seiner „Watt willze machen“-Haltung fast als Gegenentwurf. Ganze Generationen von jungen Aktiven ziehen lieber in die Metropolen.

Ja, natürlich: Aus Berliner Perspektive ergibt sich der interessante Widerspruch, dass im Ruhrgebiet sehr viel Engagement ist, aber gleichzeitig scheinbar wenig geht. Umso wichtiger sind die – im Vergleich wenigen – Initiativen, die entgegen der Mentalität nicht warten, sondern Ideen selbst umsetzen: ein Kulturlokal, eine Nachbarschaftsinitiative, die einen kleinen Laden betreibt und Nachhilfeunterricht für Kinder gibt, eine Fahrradwerkstatt – also kleine Momente, die aber natürlich durch tägliche Praxis realisiert werden müssen. Das ist reale, gesellschaftliche Arbeit, aber eben nicht in einem Neuköllner Milieu, wo man nur drei Häuser weiter geht und da ist wieder was.

Stattdessen gibt es diesen Charakter von sehr durchschnittlichen, oft ein bisschen abgewirtschafteten Städten und Stadtteilen, wo die Grundstimmung ist: Naja, wir können ja eh nicht so viel machen. Wenig Aktive, viele Möglichkeiten, das ist die Ambivalenz: Man könnte sagen, wenn du im Ruhrgebiet eine kleine, funktionierende Arbeitsgruppe hast, ein bestimmtes Konzept, eine Idee und ein echtes Realisierungsbedürfnis, dann geht einiges. Die paar handverlesenen Leute, die sich entschließen, etwas aufzubauen, brauchen Beharrlichkeit. Umso wichtiger ist es, sie ein Stück nach vorne zu bringen, indem man ihre Arbeit zeigt.

Der Dokumentarfilm „Das Gegenteil von Grau“, den Du gemeinsam mit der Gruppe „Recht auf Stadt Ruhr“ gemacht hast, zeigt genau solche Initiativen.

Gemeinsam mit Leuten aus dem Ruhrgebiet, die sich mit den Fragen Mieten, Wohnen, aber auch mit Freiräumen beschäftigen, entstand die Idee, unterschiedliche Ruhrgebietsgruppen vorzustellen und miteinander in Beziehung zu setzen. Die Idee dahinter ist, dass Initiativen, die auch in unterschiedlichsten Bereichen arbeiten, sich kennenlernen und man über diese Differenz feststellt: Es gibt einfach viele, die an ihrem jeweiligen Ort, in ihren Städten, etwas probieren. Wir haben uns letzten Endes auf fünf Orte konzentriert: Dortmund, Bochum, Essen, Duisburg und Oberhausen.
Die 20 vorgestellten Initiativen decken von Gruppen, die Leerstand besetzen, bis zur solidarischen Landwirtschaft ein erstaunlich breites Spektrum ab.

Die Frage ist doch: Wie organisieren wir uns als Menschen, als Gesellschaft? Es sind kleine, feine Beispiele, wie man etwas realisieren, etwas anders machen kann. Das kann eben ein Buchladen sein, der als Kollektiv funktioniert, oder eine Genossenschaft, die es unterschiedlichen Leuten ermöglicht, dauerhaft, sicher und ziemlich gut zu wohnen und zusammenzuleben. Was im Film zu sehen ist, ist die Breite der Ansätze und die Unterschiedlichkeit der Initiativen, die in den städtischen Raum intervenieren.

Der Film macht Ende März eine kleine Tournee durchs Ruhrgebiet. Glaubst Du, er wird auch außerhalb funktionieren?

Ich komme ja nicht als Filmemacher und mache etwas über das Ruhrgebiet, sondern ich mache mit Menschen im Ruhrgebiet aktiv etwas zusammen. Dabei ist mir nochmal aufgefallen, wie stark das Bedürfnis der Aktiven hier ist, die sagen: „Wir brauchen das für uns.“ Wir werden auch mit diesem Film in einer englischen Übersetzung in ganz Europa sein. Wahrscheinlich gibt es in einer Großstadt, die wir gar nicht kennen, in der Ukraine oder im postindustriellen England, auch Ansätze und Gruppen, die dadurch vielleicht Inspiration erhalten. Aus der eigenen lokalen Perspektive spürt man oft nur das vermeintlich Unbedeutende und die Mühen der Ebene und man unterschätzt die Relevanz. Es geht aber um große, gesellschaftliche Prozesse, die in ganz Europa und weltweit stattfinden.

Erschienen in bodo – Das Straßenmagazin März 2017
http://bodoev.de/artikel/bodo-im-maerz.html

Für die Print-Ausgabe des Heftes bitte Kontakt direkt mit bodo e.V. aufnehmen:
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