Review des Publizisten und Soziologen Bernd Drücke

Im Dokumentarfilm »Das Gegenteil von Grau« werden linke Kollektive vorgestellt

An den Autobahnen A 1, A 2, A 31 oder A 43 weisen große, braunweiße Schilder z. B. bei Hamm und Dorsten darauf hin, wo man sich befindet, nämlich in der »Metropole Ruhr«. Bis 2013 stand dort auf ähnlichen Schildern noch »Ruhrgebiet«. Diese Bezeichnung ist inzwischen offenbar verpönt. Es erinnerte die Marketingstrategen vom Regionalverband Ruhr wohl zu sehr an Maloche, Hochöfen, Kohlenstaub, Arbeiterkämpfe und Solidarität.

Um letzteres geht es in »Das Gegenteil von Grau«, dem neuen Dokumentarfilm des Berliner Filmemachers Matthias Coers. Mit dem Vorgängerfilm »Mietrebellen« hat der Soziologe für Furore gesorgt. Er ließ darin Menschen zu Wort kommen, die in Berlin gegen die Verdrängung aus nachbarschaftlichen Lebenszusammenhängen kämpfen. Eine Ode an den Aufbruch urbaner Protestbewegungen. »Das Gegenteil von Grau« knüpft daran an. Bei einer »Mietrebellen«-Vorführung lernte der Regisseur Leute von »Recht auf Stadt – Ruhr« kennen. Gemeinsam machten sie sich daran, die vielfältige Szene des Potts zu besuchen. Sie führten Interviews mit Menschen, die in den sozialen Nischen Dortmunds, Oberhausens, Bochums, Duisburgs und Essens aktiv sind.

Vorgestellt werden im Film 20 selbstorganisierte Projekte, die in den städtischen Alltag eingreifen. Beispielhaft sind die Initiativen Kitev (Kultur im Turm e. V.) und Refugees’ Kitchen, die mit Menschen aus aller Welt, darunter auch Geflüchteten, lokale Formen des Zusammenlebens und -arbeitens entwickeln. Zu Wort kommen Vertreter des anarchistischen Buch- und Kulturzentrums Black Pigeon, des soziokulturellen Zentrums Syntopia, des Buchladens Taranta Babu sowie des Lokals und Veranstaltungszentrums Nordpol, das in der Dortmunder Nordstadt »gegen soziale Kälte« betrieben wird. Außerdem eine feministische Graffitisprayerin sowie Leute aus ökologischen Gemeinschaftsgärten, Stadtteilläden, Repair Cafés und Mieterinitiativen, alle selbstbestimmt, unabhängig und kollektiv organisiert.

In einer Szene sieht man ein Wohnzimmer mitten auf der Straße. Die in vielen Gegenden durch Leerstand, Brachflächen, Stillstand und Anonymität geprägte »Region Ruhr« bietet Möglichkeiten, die es in gentrifizierten Schickimickistädten nicht mehr gibt. Ein bewegender Höhepunkt des Films sind Gespräche mit den sympathischen Rentnern der Duisburger Bürgerinitiative (BI) Zinkhüttenplatz, die nach fünf Jahren nachbarschaftlicher Selbstorganisierung endlich auf den Erhalt ihres Quartiers anstoßen können. »Das Gegenteil von Grau« zeigt, was mit sozialen Kämpfe erreicht werden kann, wenn Menschen entschlossen an einem Strang ziehen. »Solidarität ist das Geheimnis unseres Erfolgs«, bringt das der kämpferische BI-Sprecher auf den Punkt.

Der Film eröffnet auch einen anderen Blick auf soziale Strukturen. Anfang der 1980er Jahre arbeitete mein 1965 in Kurdistan als Arbeitsmigrant angeworbener Schwiegervater noch am Hochofen im Hoesch-Stahlwerk im Dortmunder Norden. Zu jener Zeit lauschte ich als Jugendlicher im Jugendzentrum Unna-Mitte den Liedern der Bluesband »Das dritte Ohr«: »Nordstadt ist Mordstadt. Hier kennt keiner kein’ und im Fahrstuhl ist jeder lieber allein.« Die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets zeichnete sich damals bereits ab. Peu à peu wurden die Hoesch-Arbeiter entlassen. Das alte Stahlwerk in der Oesterholzstraße wurde 2002 demontiert, verschifft und in China wieder aufgebaut, wo es die Luft bis heute mit Dioxin verseucht.

Der »Strukturwandel« hat die Dortmunder Nordstadt hart getroffen. Wenn Politiker heute von »No-go-Areas« in NRW sprechen, dann meinen sie »Problemstadtteile« wie diesen. Heute leben hier etwa 60.000 Menschen, mehr als zwei Drittel davon sind Migranten, die Arbeitslosenquote ist mit 24 Prozent gut viermal so hoch wie im Bundesdurchschnitt. Trotzdem ist gerade die Nordstadt eine der lebendigsten Gegenden im Pott. Im Film erklärt ein Redakteur der Obdachlosenzeitschrift Bodotreffend: »Das ist Urbanität, das ist nicht nur schön, das ist krass und ganz schön bunt. Die Nordstadt wird nie ein bürgerlicher Vorort, und deshalb kann ich mich hier freier bewegen. Es ist ein Erkämpfen öffentlichen Raumes, das hier stattgefunden hat.«

Als schwarzroter Faden zieht sich die Frage durch den Film, wie ganz unterschiedliche Leute im Pott zusammenkommen, soziale Freiräume erkämpfen und Utopien entwickeln können. Die Vielfalt und Lebendigkeit der präsentierten Projekte macht Lust auf Vernetzung, auch im Widerstand gegen Rassisten. Ein Bewohner einer von Räumung bedrohten Wagenburg in Duisburg stellt klar: »Es gibt viele Projekte im Ruhrgebiet. Wenn die sich stärker vernetzen, kann dem braunen Sumpf etwas entgegengehalten werden.« Auch dazu regt »Das Gegenteil von Grau« an.

junge Welt am 19.06.2017, Seite 10:
https://www.jungewelt.de/artikel/312679.der-schwarzrote-faden.html
Auf englisch: http://gegenteilgrau.de/2017/07/05/the-black-red-thread

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